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Tohoku sechs Monate nach der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe
vom 11. März 2011

  

Sechs Monate nach der großen Naturkatastrophe vom 11.03.2011 haben sich 15 Berliner und Wahlberliner auf den Weg nach Japan gemacht, um sich im Nordosten des Landes – in der Region Tohoku, Präfektur Iwate (ca. 450 km von Tokyo entfernt) – an Freiwilligenprojekten zu beteiligen.
Zusammengefunden hatte sich die recht „bunte“ Gruppe – Studenten, Rentner, Angestellte im Alter von Anfang 20 bis 73 – nach einem Aufruf von Dr. Hiroomi Fukuzawa, ehem. Dozent für Japanologie an der Freien Universität Berlin, im Newsletter der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Berlin vom April 2011. Alle verband der starke Wunsch, praktische Hilfe vor Ort zu leisten, etwas Greifbares für die betroffenen Menschen in Japan zu tun. Große Unterstützung erfuhr das Berliner Kizuna-Projekt* schon in der Vorbereitungsphase dankenswerterweise finanziell und logistisch von sehr engagierten Berliner Unternehmen und auch Privatpersonen.
Aufgrund einer Empfehlung reiste die Gruppe Mitte September 2011 zunächst nach Tono, einer kleinen Stadt in den Bergen von Iwate. Die Einwohner von Tono haben traditionell eine sehr enge Beziehung zu den Menschen, die an der Sanriku-Küste leben (sehr zerklüfteter, teils fjordartig anmutender Küstenstreifen von ca. 600 km Länge). Schon wenige Tage nach dem gewaltigen Erdbeben, von dem auch Tono stark erschüttert wurde, begann man dort, unter Leitung des Sogo Fukushi Center Freiwillige zu rekrutieren. Den Opfern des Erdbebens und des Tsunami musste so schnell wie möglich und ganz unbürokratisch geholfen werden, mit den unfassbaren Zerstörungen irgendwie zurechtzukommen und das Leben wieder zu organisieren. So ist das Magokoro Net** entstanden, das seit Mitte März 2011 immer weiter ausgebaut wurde und inzwischen den Status einer „NPO“ (Non Profit Organization) besitzt. Vom Tono Magokoro Net werden in Abstimmung mit den lokalen Behörden und den Bewohnern an der Küste täglich Einsätze von Freiwilligen professionell organisiert und koordiniert. Inzwischen diente das Magokoro Net im Sogo Fukushi Center der Gemeinde Tono, schon mehreren Hundert Freiwilligen aus ganz Japan und aus anderen Ländern als Basisstation für ihre Einsätze.
Von Tono aus führte der erste Arbeitseinsatz in die Stadt Otsuchi, Ortsteil Akahama Beach.
Obwohl wir uns im Vorfeld der Reise fast täglich im Internet über den Stand der Aufräumarbeiten an der Küste von Iwate informiert hatten, waren wir erschüttert, als wir bei strahlendem Sonnenschein und Temperaturen von etwa 30 °C mit den Fahrzeugen aus den Bergen hinunter an die Küste kamen. Man trat plötzlich in eine andere Welt ein - vor uns lag ein merkwürdig leer und weit wirkender Landstrich mit einzeln stehenden Ruinen. Die Mehrzahl der zerstörten traditionellen Häuser war bereits abgetragen worden. Die wenigen Betonbauten, die dem Tsunami scheinbar standgehalten hatten, waren schwer beschädigt und offensichtlich nicht mehr zu nutzen.
Geräumte Straßen und Wege durchziehen das geisterhafte Gebiet voller Schutthalden, Bergen von Autowracks und Resten von zerstörten Häusern. Man sieht LKW, die Schutt, absurd verformte Autoteile, Reste von Haushaltsgeräten, zusammengefaltete Fahrräder u. ä. geladen haben sowie Bagger und andere große Baumaschinen, die neue Trümmerhaufen zusammenschieben. Menschen in schweren Arbeitsanzügen mit Atemschutzmasken dirigieren in flimmernder Hitze die riesigen Geräte.
Die Freiwilligen hatten an diesem Tag den Auftrag, in Akahama Beach bereits grob beräumte Grundstücke von Schuttresten, Glas und Metall und von dem sechs Monate nach dem Tsunami auf jedem Stück Land wuchernden Unkraut zu befreien. Mit uns arbeiteten überwiegend junge Leute aus vielen Regionen des Landes – Japaner und Japanerinnen, die durch diese Freiwilligenarbeit ihre Verbundenheit mit den Opfern des Erdbebens und des Tsunami zeigen und helfen wollten, die zerstörten Gebiete wieder bewohnbar zu machen. Viele waren für zwei bis drei Tage nach Tohoku gekommen, einige waren zum wiederholten Male angereist, andere – vor allem Ältere – hielten sich für mehrere Wochen in Tono auf und hatten bereits an verschiedenen Orten gearbeitet.
Eine große Gruppe junger Leute war von einem auch international sehr bekannten Elektronikunternehmen in die Region entsandt worden. Zur Ausbildung der Ichi-nen-sei, der neu eingestellten jungen Frauen und Männer aus Unternehmensteilen in ganz Japan, gehören seit einigen Monaten auch kurzfristige Einsätze bei Aufräumarbeiten im Katastrophengebiet von Tohoku.
Am zweiten Arbeitstag half das Berliner Kizuna-Team auf verschiedenen Grundstücken in der Gemeinde Hakozaki, die zum Verwaltungsbezirk Kamaishi gehört. In Kamaishi lebten bis Mitte März ungefähr 40.000 Menschen. 884 Einwohner sind durch das Erdbeben und den Tsunami umgekommen, etwa 190 gelten noch als vermisst***. Die kleine Gemeinde Hakozaki befindet sich auf einer Halbinsel und ist nur über einen schmalen Tunnel zu erreichen. Von den 513 Wohngebäuden der Halbinsel sind 314 durch die Kraft des Wassers schwer beschädigt oder ganz zerstört worden. 72 der 1322 Bewohner sind umgekommen, 42 Personen werden noch vermisst****.
Der Kontrast der unglaublich schönen Landschaft, des so friedlich anmutenden Meeres, des strahlenden Spätsommerwetters und der apokalyptischen Trümmerlandschaft verursachte fast körperliche Schmerzen.
Wir arbeiteten u. a. auf dem Grundstück eines 90-jährigen Mannes, dessen Haus mit Nebengelass ebenso wie die Häuser der Nachbarn völlig zerstört und zum größten Teil bereits abgetragen worden war. Man hatte uns darauf aufmerksam gemacht, dass die Bewohner der Halbinsel Hakozaki sehr stolz seien und sowohl die professionellen als auch die freiwilligen Hilfskräfte anfangs gar nicht in den Ort ließen. Inzwischen haben die Freiwilligen vom Magokoro Net aber eine sehr vertrauensvolle Beziehung zu den Überlebenden aufbauen können und helfen auf äußerst sensible Weise, den Ort von den Trümmerresten zu befreien und den Bewohnern ein wenig Lebensmut zurückzugeben.
Der dritte Tag führte unsere Gruppe nach Rikuzentakata – ein Küstenort, der durch die Katastrophe vom 11. März 2011 traurige Berühmtheit erlangt hat. Hier arbeiteten wir u. a. mit jungen Studentinnen einer Fachschule für Pflegeberufe zusammen, die aus der Präfektur Kanagawa (ca. 520 km entfernt) gekommen waren.
Die Stadt liegt in einer weiten Ebene. Die einst schönen Strände waren ein bekanntes Surfer-Paradies. Der zum Verwaltungsgebiet Rikuzentakata gehörende Kiefernwald Takata-Matsubara mit etwa 70.000 Bäumen erstreckte sich etwa 2 km entlang der Küste. Jetzt gilt der einzige etwa 10 m hohe Baum, der dem Tsunami trotzen konnte, als Symbol für den Lebenswillen der Menschen und der Natur. Die Wurzeln des einsamen Baumes sind allerdings durch das Salzwasser stark angegriffen, so dass man große Angst hat, der Baum könnte doch noch fallen.
Der Tsunami hat 80 % der Gebäude der Stadt zerstört. Er ist entlang des Flusses Kesengawa etwa 8 km weit ins Land „gerollt“ und hat alles mitgerissen. 1.554 Menschen sind umgekommen, 337 gelten offiziell noch immer als vermisst***.
Wir säuberten das Grundstück einer 83-jährigen Frau von Steinen, Metall, Glas, Unkraut, Plastik und allem anderen Unrat. Umrahmt von farbenfrohen Pflanzen, die normalerweise nur an felsigen Küsten wachsen, hat sie bereits wieder ein bisschen Gemüse angebaut. Die Zwiebeln sind unnatürlich groß geworden. Die schönen Blumen „hat die Welle mitgebracht“ …
Die Familie hat alles verloren – die einstigen Reisfelder stehen unter Wasser, die erst ein halbes Jahr vor der Katastrophe gekaufte und nur dreimal zum Einsatz gekommene Erntemaschine ist ein großer undefinierbarer Metallklumpen. Zurzeit lebt die Familie mit sechs Personen in einem alten Apartmenthaus in einer winzigen 2-Zimmer-Wohnung. Der Sohn der alten Dame erzählte, dass er wieder neu bauen wolle. Aber woher die Mittel dafür kommen oder wann und wo man bauen kann, ist noch lange nicht geklärt.
Schließlich zogen wir von Tono nach Ofunato um. Diese Stadt liegt an einer wunderschönen Bucht, deren „Eingang“, der Goishi-Küstenabschnitt, bis zum 11.03.2011 ein traumhaftes Panorama geboten hat. Seit dem 11.03. ist der Meeresspiegel gestiegen, und einige der Felsen der wunderschönen Formation sind im Meer versunken.
Ofunato wurde schon 1960 nach einem verheerenden Erdbeben in Chile von einem Tsunami überflutet. Die Bewohner waren relativ gut für den Katastrophenfall gerüstet, aber der Tsunami vom 11. März erreichte in der Bucht von Ofunato eine Höhe von 23,5 m und drang etwa 3 km ins Landesinnere vor, wobei 6 der 58 ausgewiesenen Evakuierungspunkte geflutet wurden. Fast 3.500 Gebäude wurden zerstört. 339 Menschen sind umgekommen, 107 gelten offiziell als vermisst***.
Die Berliner Gruppe half von nun an hauptsächlich im eingemeindeten Ortsteil Okirai beim Freischachten von Straßengräben, damit das Regenwasser wieder aus den Bergen der Umgebung abfließen kann. Mit uns mühte sich einige Tage ein Team von Brasilianern, die in Japan leben, arbeiten oder studieren und aus der Präfektur Gunma (ca. 420 km entfernt) angereist waren. Aber auch Ortsansässige und japanische Gruppen aus anderen Präfekturen beteiligten sich an den Aufräumarbeiten. Wir hatten allerdings den Eindruck, dass an diesem Küstenstreifen bisher nicht viele Helfer zum Einsatz gekommen waren. Das Freiwilligennetzwerk in Ofunato scheint noch nicht so gut organisiert und erfahren zu sein wie das in Tono.
In Ofunato wurde unsere Gruppe unermüdlich von einer äußerst engagierten Familie unterstützt, die hier lebt und mit Dr. Fukuzawa befreundet ist. An zwei Tagen verhinderte der den Taifun Nr. 15 begleitende Dauerregen unsere Arbeit in Okirai, weshalb für den 20. und 21.09. andere Dinge auf unserem Programm standen. So konnten wir durch die Vermittlung unserer „stillen Helfer“ in kleineren Gruppen zwei Kindergärten, eine Oberschule und ein Altersheim besuchen, Einladungen zu Veranstaltungen der Gemeinde an Bewohner von Behelfsunterkünften verteilen und auch eine freie Wohnung in einer solchen Unterkunft anschauen. Ein Höhepunkt war am 20.09. der Besuch beim Bürgermeister von Ofunato, der uns in Englisch einen kleinen Vortrag über die Ereignisse vom 11. März hielt und sehr offen auf all unsere Fragen antwortete.
Die lokalen Behörden in den durch Erdbeben und Tsunami ganz oder teilweise zerstörten Gemeinden sind mit den Bewohnern, den Präfekturverwaltungen und den Vertretern der Zentralregierung im Gespräch über die zukünftige Nutzung der Flächen. Viele Bewohner wollen an ihren alten Wohnort zurückkehren, aber bisher ist noch nicht geklärt, ob die vom Tsunami überfluteten Gebiete überhaupt wieder für eine Wohnbebauung freigegeben werden. Die Verkehrsverbindungen sind längst noch nicht alle wieder hergestellt. Da die Gleise der ursprünglich an der Küste verkehrenden Eisenbahn zerstört oder weggespült wurden, verbinden derzeit nur Busse die Ortschaften miteinander. Die Eisenbahngesellschaft JR East hat sich noch nicht geäußert, wann und ob man die Schienenstränge reparieren und den Bahnverkehr wieder aufnehmen kann.
Ein anderes Problem ist die hohe Arbeitslosigkeit in den betroffenen Regionen. Schon vor dem 11. März hatten die Präfekturen mit einer starken Überalterung der Bevölkerung zu kämpfen. Durch das Unglück sind viele der in der Küstenregion ansässigen Unternehmen zerstört oder wie – vor allem die Fischereiwirtschaft – stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Junge Leute werden vielleicht abwandern, um sich in anderen Präfekturen Arbeit zu suchen.
Es gibt eine Vielzahl von Schwierigkeiten, die wir in der kurzen Zeit unseres Aufenthaltes gar nicht alle erfassen konnten. Bald wird es wieder kalt. Wenn der Winter kommt, können Freiwillige wahrscheinlich keine Aufräumarbeiten mehr leisten. Dann werden sie sicher „soft work“ verrichten, d. h. im Schutt und Schlamm gefundene Fotos säubern oder insbesondere älteren Bewohnern in den Behelfsunterkünften helfen, den Alltag zu meistern und sich körperlich und geistig fit zu halten.
Die Zerstörungen an der Küste von Tôhoku sind so groß, dass es bestimmt noch einige Jahre dauern wird, bis die Ortschaften wieder aufgebaut sind und die Infrastruktur wieder richtig funktioniert.
Wir müssen vielen Menschen von unseren Erlebnissen und Erfahrungen erzählen, damit allen bewusst bleibt, dass die Menschen in Tohoku noch lange mit den Folgen des Bebens und des Tsunami zu kämpfen haben. Unsere Berichte sollen helfen, die Erinnerung an die Katastrophe vom 11. März 2011 in unserer schnelllebigen Zeit wach zu halten.
 
Marina Riessland
(überarbeitet im November 2011)
 
***   Offizielle Statistik der Präfekturverwaltung Iwate vom 17.10.2011, http://www.pref.iwate.jp/~bousai/  
**** Angaben Rathaus der Stadt Kamaishi, Nov. 2011
Fotos, wenn nicht anders vermerkt: © Marina Riessland, September 2011
Text: Urheberrechtlich geschützt, Nachdruck nur mit Genehmigung der Verfasserin.